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Der reflexionsarme Raum

tonetti • Juli 01, 2022

Der reflexionsarme Raum

Ein reflexionsarmer Raum oder auch Freifeldraum genannt (umgangssprachlich auch schalltoter Raum) ist ein Raum, in dem möglichst viel Schall absorbiert wird. Klassische reflexionsarme Räume werden mit Absorberkeilen aus Mineralwolle ausgestattet, die eine untere Grenzfrequenz von 80 bis 125 Hz ermöglichen. Dafür muss die Tiefe dieser Keile zwischen ca. 0,7 bis 1,0 m liegen. Die besten reflexionsarmen Räume haben eine Grenzfrequenz von rund 50Hz. Die Größe der Räume ist abhängig von den Messanforderungen. Es gibt sehr große Räume, in denen die akustischen Eigenschaften von Flugzeugen gemessen werden können; für Mikrofonkalibrierungen reichen hingegen kleinere Kammern. Man unterscheidet auch zwischen (Voll)-Freifeldräumen und Halbfreifeldräumen. Letztere sind zur Messung schwerer Maschinen, Autos, usw. geeignet. Sie besitzen schallabsorbierende Wände und eine schallabsorbierende Decke, aber einen harten (und belastbaren) Boden. Bei Vollfreifeldräumen gibt es ein begehbares, stark gespanntes Netz oder ein Gitter über den Absorberkeilen am Boden. Um reflexionsarme Räume von Geräuschen von der Außenwelt optimal zu isolieren, werden sie oft als Raum in Raum Konstruktion gebaut. 



Die schallabsorbierenden Keile


Die spezielle Form der schallabsorbierenden Keile in Freifeldräumen, bietet auftreffendem Schall eine ideale Impedanzanpassung in Kombination mit einer großen Absorptionsfläche. Unter der Schallkennimpedanz versteht man den Widerstand, der dem Schall bei der Ausbreitung in einem Medium entgegengesetzt wird. Geht Schall von einem Medium in ein anderes über, so wird umso mehr Schall absorbiert, je ähnlicher die Schallkennimpedanzen der zwei Medien sind. Für eine möglichst hohe Schallabsorption im Raum, sollte deshalb die Schallkennimpedanz der Keile, der der Luft entsprechen. Dadurch wird der Schall vom Absorbermaterial gut aufgenommen, dringt in ihn ein und wird dann durch die Reibung in Wärme umgewandelt. Der geringe Schallanteil, der beim Auftreffen auf einen Keil reflektiert wird, wird aufgrund der Dreieckform nicht in den Raum zurückgeworfen, sondern in Richtung eines anderen Keils gelenkt, und dort wiederum absorbiert. Der weiter reflektierte Schallanteil wird regelrecht zwischen den Keilen hin- und hergeworfen und verliert durch die Viskosität der Luft, speziell in der Nähe der Wand, wo zwei benachbarte Keile zu einer Ecke zusammenkommen, an Energie. Auch die Luftdissipation fördert weiteren Energieverlust der Schallwelle.




Das Abstandsgesetz


In einem reflexionsarmen Raum ergeben sich durch die Bedingungen wie im Freien (im Falle des Vollfreifeldraumes wie z.B. hoch oben auf einem Kran) spezielle Möglichkeiten der Schallmessung, da es zu keinen störenden Reflexionen kommt. Wird um eine Schallquelle in einem bekannten Abstand auf einer Hüllfläche der Schalldruck gemessen, so kann, aufgrund des geltenden Abstandsgesetzes, die Schallleistung der Quelle errechnet werden: 




mit

 

Lw … Schallleistungspegel [dB]

LP … Schalldruckpegel [dB]

S … Messoberfläche [m²]

Die Schallquelle wird dabei als theoretische Punktschallquelle angenommen, die Kugel- / Messoberfläche in einem Vollfreifeldraum hat den Radius  r und eine Oberfläche von 4r2π. Somit ergibt sich folgende Formel:

Schreibt man die Formel für den Schalldruckpegel LP um, so ergibt sich in einem Meter Entfernung ein Schalldruckpegel von -11dB gegenüber dem Schallleistungspegel. Pro Entfernungsverdoppelung sinkt der Schallpegel um -6dB.

 

 

Die verschiedenen Anwendungen der Räume


Reflexionsarme Räume können für unterschiedliche akustische Messungen eingesetzt werden. Sie werden beispielweise für die Kalibration von Messmikrofonen oder für die Bestimmung der Richtcharakteristik von Lautsprechern verwendet. Dabei werden in der horizontalen und vertikalen Ebene halbkreisförmig vor dem Lautsprecher Mikrofone platziert, welche die entsprechenden, winkelabhängigen Frequenzgänge messen. Umgekehrt kann mit Lautsprechern mit linearen Frequenzgängen, die um ein Mikrofon herum angeordnet sind, das Polardiagramm eines Mikrofons bestimmt werden. Auch die Messung von kopfbezogenen Übertragungsfunktionen (HRTFs) ist damit möglich. Wird eine Anzahl von Lautsprechern um einen Probanden herum platziert, sind präzise Experimente zur Schallwahrnehmung möglich, es gibt keine störenden Reflexionen wie in einem herkömmlichen Raum. Darüber hinaus kann auf diese Weise die Akustik eines Raumes, z.B. eines Konzertsaales, hörbar gemacht werden (Auralisation). Schließlich werden reflexionsarme Räume auch benötigt, um Tonaufnahmen zu machen, z.B. für Hörspiele, Features und Film-Synchronisierungen, bei denen die Handlung im Freien spielt. Daher gibt es in manchen Freifeldräumen z.B. auch begehbare Flächen mit Laub oder Schotter, um den Klangeindruck einer echten Außenaufnahme zu erreichen.




Normativ geregelt


Die hohen Anforderungen an reflexionsarme Räume und die richtigen Messbedingungen sind in den Normen DIN 45635-1, „Geräuschmessung an Maschinen; Luftschallemission, Hüllflächen-Verfahren“, sowie DIN EN ISO 3745, „Akustik - Bestimmung der Schallleistungs- und Schallenergiepegel von Geräuschquellen aus Schalldruckmessungen - Verfahren der Genauigkeitsklasse 1 für reflexionsarme Räume und Halbräume“, zusammengefasst.

Bei der Abnahme von reflexionsarmen Räumen wird nicht das 99%ige Absorptionsvermögen überprüft, sondern ob der Schallpegel tatsächlich, wie im Freifeld mit 6dB pro Entfernungsverdoppelung abfällt. Folgende Tabelle gibt die Grenzwerte für Messungen nach Genauigkeitsklasse 1 in Freifeldräume an:


Das unten angeführte Diagramm zeigt die gemessenen Abweichungen des reflexionsarmen Raumes des Fraunhofer-Instituts für Bauphysik. Dieser ist ein Halbfreifeldraum und ist mit Breitband-Kompakt-Absorbern ausgestattet. Er besitzt bei 31,5Hz noch bis etwas über zwei Meter Abstand eine geringe Abweichung von der theoretischen Abklingfunktion wie im Freifeld.


Wissenswert


Im Jahr 2015 wurde im reflexionsarmen Raum von Microsoft der niedrigste jemals auf der Erde gemessene Schallpegel von -20,6dB(A) erfasst. Das absolute Minimum, das von der Luft bzw. die sich bewegenden Luftteilchen (brownsche Molekularbewegung) an sich verursacht wird, liegt bei -23dB. 

 

 


Quellen:




Hinweis:

Dieser Text ist in Zusammenarbeit mit Florian Mayerhoffer (https://www.shape-the-sound.com/) und Francesca Tonetti (tpnetti@rohde.at)  entstanden.


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